Alltags-Kolumne

Der Irrsinn des Seins

Eine Alltags-Kolumne

Regeln! Jeder kennt sie – jeder liebt oder hasst sie. Ob irrsinnig oder brauchbar. Egal! Wir leben mit ihnen und versuchen sie zu befolgen. Mal mehr. Mal weniger. 

Verkehrsregeln zum Beispiel sind klar und deutlich geregelt. Grün heißt „Go“ Rot heißt „Stopp“. Ganz klar verständlich. Anders ist es mit den Verhaltensregeln. Hier wird es schwierig. Jetzt ist das Individuum gefragt, wie es die allgemein moralisch geltenden Regeln versteht und in die Tat umsetzt. „Knigge“ ist hier natürlich sehr hilfreich. Aber sind das wirklich Regeln oder doch nur Ratschläge für ein gutes Benehmen und harmonisches Miteinander? Diese Frage lasse ich an der Stelle mal offen. Also wenn ich mit meinem Auto eine Straße entlang fahre und an eine Kreuzung gelange, an der KEIN Schild zu sehen ist, gilt die allgemeine Regel „Rechts vor Links“. Einfach, nicht wahr! Das heißt, dass jeder der einen Führerschein besitzt, diese Regel also kennt. Außer natürlich die und diejenigen, die genau bei dieser Frage falschlagen, aber trotzdem die zu erreichende Punktzahl erzielt haben. Glück für sie – eventuell Pech für den Rest derer, die hier das Kreuzchen richtig gesetzt haben und in die Eisen treten müssen, wenn sie genau auf so einen Kandidaten im Straßenverkehr stoßen. Und genau jetzt wird es interessant, denn diese einfache und wirklich sinnvolle Regelung ist auch in anderen Lebenssituationen sehr nützlich und meiner Meinung nach auch essentiell. Also nehmen wir einmal an, ich schiebe meinen Einkaufswagen durch die Reihen des Supermarktes und erreiche eine Kreuzung. Wie es der Zufall und die Stoßzeit (Rushhour) so will, kommen mir von rechts und auch von links selbige Wägen mit genervten Individuen entgegen. Jetzt wird es spannend. Wir drei blicken uns in die Augen. Gleich wird sich herausstellen, wer von den zweien das Kreuzchen in der Führerscheinprüfung richtig gesetzt hat. „Rechts vor Links“ ist ja für viele schon unbegreiflich, aber diese Situation bringt die Gemüter an ihre Grenzen. Wer zum Geier darf bei drei Leuten als erstes fahren? Die Dame aus Gang 4 zu meiner Linken, blickt sich nervös um. Womöglich ist sie auf der Suche nach einem Schild oder Zeichen, das ihr vorschreibt, was in dieser prekären Situation zu tun ist. Ich lächele sie aufmunternd an und deute mit meinem Kinn zu dem Herrn zu meiner Rechten. Hoffentlich hat sie den Hinweis verstanden, denke ich. Der Mann neben mir blickt mich mit weitaufgerissen Augen an. Sein Griff um die Stange des Einkaufswagens wird fester und die Knöchel seiner Hände sind bereits ganz rot. Irritiert blinzel ich ihn an. Möchte er jetzt ganz nach Gentleman-Manier mir den Vortritt lassen oder ist er sich wirklich nicht bewusst, dass er in der glücklichen Position ist, als erster diese Kreuzung zu passieren und dieser mehr als unangenehmen Situation zu entfliehen? Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hat auch er ebenfalls das Kreuzchen bei der dazugehörigen Frage seiner Führerscheinprüfung falsch gesetzt. Ich bin schon drauf und dran den Mann freundlich darüber zu informieren, dass er derjenige welcher ist, der Vorfahrt hat. Aber ich halte mich zurück. Ich tue jetzt auch einfach so, als ob ich von „Rechts vor Links“ noch nie etwas gehört habe und blicke zuerst zu der Dame und dann zurück zum Herrn, mache ein verzweifeltes Gesicht und zucke mit den Achseln. Heute lege ich es darauf an, weil ich einfach Lust habe und mich die zwei amüsieren. Vor allem aber möchte ich den beiden eine Chance geben, ihr scheinbar vergessenes Wissen doch noch aus irgendeiner Ecke ihres Gehirns herauszukramen und anzuwenden. Nach gefühlten Minuten stehen wir drei immer noch genauso da. Mittlerweile ist auch das Gesicht des Mannes gerötet. Er ist kurz vorm Platzen und wippt ungeduldig mit seinem Einkaufswagen hin und her. Und jetzt passiert etwas wunderbar Unvorhersehbares. Eine zweite ältere Dame steuert auf unsere Kreuzung zu. Sie kommt aus Gang drei. Mit gesenktem Kopf blickt sie auf ihren Einkaufszettel in ihrer Hand und schiebt den Einkaufswagen einfach an uns vorbei, ohne uns überhaupt bemerkt zu haben. Ich muss schmunzeln. Der Herr und die Dame aus Gang 4 schütteln fassungslos den Kopf. Empört ruft der Mann: „Was fällt ihnen ein, ich hatte Vorfahrt.“ Die Dame pflichtet ihm bei und murmelt: „Genau! Unverschämt!“ Ich seufze und beobachte wie der Herr der Dame aus Gang 4 freundlich den Vortritt überlässt und danach selbst seinen Einkaufswagen an mir vorbeischiebt.A

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